Die Postkarte

Anne Berest
Die Postkarte
Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner
Berlin Verlag 2023
539 Seiten
ISBN 978-3-8270-1464-1
2003 landet eine rätselhafte, nicht unterschriebene Postkarte im Briefkasten von Anne Berests Eltern. Darauf vier Namen – die Großeltern, der Onkel und die Tante ihrer Mutter – alle 1942 in Auschwitz ermordet. Die Familie verstaut die Karte in einer Schublade. Und schweigt.
Erst Jahre später, als Antisemitismus im Alltag ihrer kleinen Tochter auftaucht, beginnt Anne Berest sich zu fragen: Wer hat diese Karte geschrieben? Warum? Und was bedeutet es, heute jüdisch zu sein?
Sie begibt sich auf eine sehr persönliche Spurensuche, in der sich Familiengeschichte und Gegenwart eindrucksvoll verweben. Auf Basis der Protokolle und Berichte ihrer Mutter erzählt sie – ausgehend von der Flucht ihrer Urgroßeltern aus Russland über Palästina nach Paris – das Schicksal der Rabinovitchs: eine Geschichte von Assimilation, Hoffnung, Verfolgung, Widerstand und Verlust. Als die Familie deportiert wird, überlebt nur die älteste Tochter Myriam.
Hier beginnt die eigentliche Recherche von Anne Berest: Nach der Hochzeit mit Vicente Picabia flieht Myriam mithilfe von Jeanine, Vicentes Schwester und Widerstandskämpferin, in den Süden Frankreichs. In einer verlassenen Hütte auf dem Hochplateau von Claparèdes versteckt sie sich mit ihrem süchtigen Ehemann – beide schließen sich dem Widerstand an. Myriam überbringt verschlüsselte Botschaften, hört BBC und schreibt Lageberichte.
Anne Berest baut ihre Familienrecherche fast wie einen Kriminalfall auf. Sie spricht mit Zeitzeugen, findet erschütternde Dokumente – und gemeinsam mit ihrer Mutter den Flügel der Großeltern im Haus von Nachbarn. Bewegend ist auch ihre nüchterne Darstellung des französischen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit: jahrzehntelange Bürokratie, beschönigende Begriffe wie „nicht zurückgekehrt“, und die späte Anerkennung des rassistischen Verfolgungsmotivs – erst 1996.
„Die Postkarte“ ist viel mehr als ein Roman. Es ist ein Stück Erinnerungskultur – klug, bewegend, erschütternd aktuell. Und ja: Das Geheimnis der Karte wird am Ende gelüftet.
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