Reichskanzlerplatz

Nora Bossong
Reichskanzlerplatz
Suhrkamp 2024
296 Seiten
ISBN 978-3-518-43190-0
Auch wenn der titelgebende „Reichskanzlerplatz“ die Berliner Adresse der 1929 geschiedenen Magda Quandt, späteren Goebbels war, ist dies keine Biografie über sie, sondern maximal eine literarische Annäherung, wenn überhaupt. In der Hauptsache erzählt dieses Buch von einem gesellschaftlichen Klima im Wandel, in dem man noch nicht weiß, wohin er führt – oder ihn nicht wahrhaben will.
Im Mittelpunkt des Romans steht Hans Kesselbach, ein fiktiver Student, mit dem Magda eine kurze Affäre hatte. Hans, homosexuell und zunächst naiv, gerät in die Dynamik der Zeit: Er erkennt die Bedrohung durch den Paragrafen 175, erlebt die gesellschaftliche Anpassung und die wachsende Notwendigkeit der Tarnung. Seine Geschichte verdeutlicht, wie Menschen sich einrichten, selbst wenn sie die politischen Entwicklungen verachten, aber als vorübergehend betrachten.
Das Buch ist keine psychologische Studie, sondern ein kühler, distanzierter Bericht eines Mitläufers, der sich nie als solcher begreift. Hans tarnt sich, gibt seine Überzeugungen nicht auf, lebt sie aber auch nicht aus. Er sieht das Unrecht, aber handelt nicht – eine häufige Haltung jener Zeit. Besonders eindrucksvoll: seine Begegnung mit einem jüdischen Bekannten, den er verzweifelt auf der Straße stehen lässt.
Hans erzählt ruhig, fast völlig emotionslos, was es mir schwer machte, größeres Interesse für ihn zu entwickeln. Magda bleibt meist eine Randfigur, mal mehr, mal weniger in seinem Bewusstsein ohne verklärt oder ergründet zu werden und wirkt immer verlorener in ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit. Es ist ein Roman über Verdrängung, Mitläufertum und die Frage, was aus der Gesellschaft wird, wenn Menschen den Ereignissen freien Lauf lassen – ein Thema wie es aktueller kaum sein könnte. Doch durch die kühle Art des Erzählens, der dadurch entstehenden Distanz zu den Figuren bleibt mir die Geschichte fern und wird mir vermutlich nicht lange im Gedächtnis bleiben.
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