Das Philosophenschiff

Michael Köhlmeier
Das Philosophenschiff
Hanser 2024
221 Seiten
ISBN 978-3-446-27942-1
Die sogenannten Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben: 1922 schob die junge Sowjetunion unter Lenin hunderte Intellektuelle per Passagierdampfer außer Landes – eine politisch saubere „Lösung“ für Menschen, die man lieber loswurde, ohne sie umbringen zu müssen.
„Das Philosophenschiff“ von Michael Köhlmeier ist ein Roman über Erinnerung – und darüber, wie wenig man ihr trauen sollte, besonders wenn eine 100-jährige Architektin sie erzählt, die sichtlich Spaß am Fabulieren hat. Anouk Perleman-Jacob bittet ihren Biografen, endlich jene Episoden zu notieren, die sie bisher lieber im Schatten ließ. Sie schildert die Deportation von Intellektuellen 1922, ihre eigene Familie mittendrin. Die Atmosphäre: bedrückend, aber auch seltsam schillernd, weil Anouk das Ganze mit altersmilder Ironie kommentiert. Ihren heimlichen Besuch beim überraschendsten Passagier – Lenin in einem Rollstuhl, schweigend, erschreckend menschlich – beschreibt sie mit einer Mischung aus Faszination und jugendlicher Kühnheit.
Köhlmeier verwebt diese Schiffsreise mit Erinnerungen an spätere radikale Bewegungen, die zeigen, wie sich politische Gewalt durch Generationen zieht: Anouks Mitarbeiterin in den USA war einst Mitglied der militanten „Weathermen“. Der recherchierende Biograf erinnert sich zudem an seinen Studienfreund Carlo aus dem Kommunistischen Bund, der von seiner Genossin Gerlinde hätte liquidiert werden sollen – ein Auftrag des Führungsoffiziers. „Wir haben Stalinismus gespielt“, sagt Carlo Jahrzehnte später, als müsse man Gräueltaten nur richtig bezeichnen, um sie zu entschärfen.
Und während Anouk erzählt, wird klar: Sie manipuliert, spielt, testet ihren Biografen aus. Ein still spannendes Buch über Macht, Erinnerung und die Tricks, mit denen wir uns selbst ertragen.


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