Die Inkommensurablen

Raphaela Edelbauer
Die Inkommensurablen
Klett-Cotta 2023
350 Seiten
ISBN 978-3-608-98647-1
Wien, 31. Juli 1914: Zwischen Julisonne und Kriegsfieber taumelt Hans, ein 17-jähriger Bauernknecht aus Tirol, eine Nacht lang durch die Stadt. Begegnungen voller Hilfsbereitschaft und Misstrauen, Bilder und Sprachen, Traumwelten und Wirklichkeit, Drogenrausch und Wissenschaft – alles verschwimmt ineinander. Wien erscheint als Geflecht aus Parallelwelten: Frauen kämpfen für Bildungszugang und Wahlrecht, sozialistische Ideen werden diskutiert, eine verborgene queere Szene existiert neben strammen Offizieren, die für Sitte und Vaterland eintreten.
Hans ist nach Wien gekommen, um die rätselhaften Erscheinungen zu verstehen, die ihn umtreiben: Warum denkt er oft etwas, das andere dann laut aussprechen? Vor der Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch trifft er Klara, eine Mathematikerin aus der Arbeiterschicht, und Adam, einen adeligen Musikliebhaber, der am nächsten Tag in den Krieg ziehen muss. Auch sie besitzen unerklärliche „Fähigkeiten“ und sind PatientInnen von Helene. Gemeinsam durchstreifen sie das nächtliche Wien – ein Labyrinth aus Ideen, Ängsten und Hoffnungen.
Der sperrige Titel verweist auf das Unvereinbare: Klara beschäftigt sich mit inkommensurablen Zahlen, Eltern und Kinder haben „kein gemeinsames Maß“ (S. 154), Schönbergs Zwölftonmusik widerspricht dem Zeitgeschmack. Gegensätze prägen nicht nur den Text, sondern auch seine eigenwillige Sprache: opulent, manieriert, zwischen altmodisch und modern. Ich bin regelrecht versunken in dieser sprachlichen Üppigkeit – so wie Hans im Trubel der Großstadt. Vertrauen und Aggression, Rationalität und Wahn liegen nah beieinander, die Gesellschaft ist ein irrationales Mosaik. Es wird viel geredet, analysiert, suggeriert – in wissenschaftlichen Experimenten, Séancen oder am Mittagstisch. Zudem umfängt Hans die Mehrsprachigkeit der untergehenden Doppelmonarchie.
Später dringt das Nicht-Verstehen in tiefere Schichten: Wann sind wir bereit, eine Einsicht anzunehmen, die wir nicht schon vorher hatten? Wie sind wir mit anderen verbunden? Welche Beziehung besteht zwischen individuellem und kollektivem Bewusstsein? Diese erkenntnistheoretischen Fragen liest man nicht nur – man spürt sie in dieser schlaflosen Julinacht des Jahres 1914.
Obwohl der Roman historisch präzise verankert ist, spiegelt er zugleich die Gegenwart: Rastlosigkeit, Reizüberflutung, Manipulation, soziale Ungerechtigkeit und Krieg durchziehen die Geschichte damals wie heute.
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