Maman
Sylvie Schenk
Maman
Hanser 2023
173 Seiten
ISBN 978-3-446-27623-9
Sylvie Schenk, die deutsche Autorin mit französischen Wurzeln, erzählt hier die in weiten Teilen unbekannte Geschichte ihrer Mutter Renée Gagnieux, einer rätselhaften und meist schweigsamen Frau. Deren Mutter starb kurz nach der Geburt, eine Textilarbeiterin aus Lyon, die ihren Lebensunterhalt vermutlich auch als Prostituierte verdiente. Die kleine Waise kam die ersten sechs Jahre ihres Lebens aufs Land zu Pflegeeltern, die das Geld brauchten; mit grosser Wahrscheinlichkeit hatte sie dort keine gute Zeit. Dann erst wird sie von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert und von ihrer Adoptivmutter aufrichtig geliebt, doch Renée
… war lieb, aber lieblos.
Seite 79
Ihre Ehe mit einem Zahnarzt war eher freudlose Pflicht, ebenso die Erziehung der ersten vier Kinder. Erst ihrer jüngsten Tochter Lisa widmete sich Renée mit mehr Zuneigung. Vielleicht altersmilde; vielleicht aber auch im Bewusstsein, dass dies ihr letztes Kind sein würde. Das Bild, das Schenk von ihrer Mutter zeichnet, ist eines von tiefem inneren Konflikt und unerfülltem Leben. Sie war ein
… angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht. Danach wurde zwar eine Notreparatur vorgenommen. Das Wesentliche hatte man aber nicht wiederherstellen können.
Seite 117
Es ist eine sacht-vorsichtige Annäherung die Schenk vornimmt, durchaus mit Kritik am Wesen der Mutter, an deren Unnahbarkeit und Gefühlskälte. Sie sieht sie als Opfer der Umstände, der Zeit, der jeweiligen Milieus, was wiederum ihrer jüngsten Schwester nicht gefällt, im Gegensatz zu einer anderen der Schwestern, die gar nichts Gutes über die Mutter zu berichten weiß. Am Ende ist das Buch mehr als nur eine biographische Aufarbeitung – es ist die „erste und letzte Umarmung“ ihrer Mutter.
„Maman“ ist eine eindrucksvolle Erzählung, die nicht nur ein persönliches Porträt zeichnet, sondern auch ein deutliches Bild der gesellschaftlichen und historischen Hintergründe, in denen Renées Leben stattfand: die bourgeoise Heuchelei, das Klassendenken und die Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs.
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