Das vergessene Schtetl

Max Gross
Das vergessene Schtetl
Aus dem Englischen von Daniel Beskos
KATAPULT 2024
394 Seiten
ISBN 978-3-948923-88-4
Stell dir vor: Ein jüdisches Dorf mitten in den polnischen Wäldern – so abgelegen, dass es den Holocaust, den Kommunismus, ja sogar das Internet verpasst hat. Willkommen in Kreskol, dem „vergessenen Schtetl“, wo die Zeit seit 1800 stillsteht. Kein Strom, kein Handyempfang, dafür Schabbatlichter, koschere Schlachter und eine ganze Menge Gänse.
Max Gross spinnt aus dieser eigentlich absurden Idee eine ebenso komische wie tragische Geschichte. Als die schöne Pescha verschwindet und ihr Ehemann verdächtigt wird, macht sich der junge Jankel Lewinkopf auf den Weg in die moderne Welt – und löst damit einen Dominoeffekt aus, der Kreskol auf brutale Weise in die Gegenwart katapultiert.
Was zunächst wie ein Schelmenroman daherkommt, entwickelt sich zu einer ernsthaften Reflexion über Geschichte, Identität und das Wiederaufflammen alten und neuen Hasses. Gross bleibt dabei erstaunlich trocken im Ton – was den Humor nur umso bitterer macht. Wenn Jankel im Irrenhaus zum ersten Mal Ray Charles hört und meint, das klinge wie Klezmer, kann man gar nicht anders, als mitzuklatschen.
Aber: Das Buch ist keine Nostalgie-Postkarte. Es kennt die Abgründe – und scheut sich nicht, sie zu zeigen, auch im „vergessenen Schtetl“ Kreskol. Als es „wiederentdeckt“ wird, kommt zudem nicht nur Tourismus, sondern auch Antisemitismus zurück. Und am Ende steht die leise Frage: Ist Vergessen vielleicht manchmal ein Schutz?
Fazit: Ein besonderes Buch – absurd, anrührend, klug und verdammt gut geschrieben. Und Dank an Daniel Beskos für die brillante Übersetzung. Wer sich auf dieses Dorf einlässt, wird es so schnell nicht wieder verlassen.
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