Die Möglichkeit von Glück
Anne Rabe
Die Möglichkeit von Glück
Klett-Cotta 2023
381 Seiten
ISBN 978-3-608-98463-7
Anne Rabes Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“ erzählt autofiktional von der Kindheit ihres erwachsenen Alter Egos Stine in Wismar, die von Gewalt und emotionaler Kälte geprägt war. Was diesen Roman jedoch so außergewöhnlich macht, ist die Verknüpfung der persönlichen Familiengeschichte mit der Geschichte der untergegangenen DDR.
Stine ist drei Jahre alt, als die Mauer fällt, und ihre ganze Familie ist fest in das System der DDR verstrickt: ihre unbarmherzige Mutter, ihr hasenherziger Vater und ihr über alles geliebter, aber völlig idealistischer Großvater. Die Kinder werden erzogen, wie es vom System erwartet wurde: autoritär – der Nachwuchs hat still zu sein und zu gehorchen. Die Einzige, die liebevoll zu den Kindern ist, Oma Ursel, wird von ihrem Ehemann geschlagen und unterdrückt. Alle wissen es, doch keiner sagt etwas.
Nun kann man zu Recht einwenden: Das war im Westen ja nicht viel anders. Dazu die Autorin im Interview mit rbb24 vom 19.09.2023:
„Gewalt gibt es auch in Westdeutschland, ich glaube aber – in einer anderen Systematik. Und das hat ganz viel damit zu tun, dass Ostdeutschland eben sehr viel länger von Diktatur und Autoritarismus geprägt war, dass es ein langes Schweigen gibt und Traditionen. Diese enorme Gewalt des 20. Jahrhunderts, die schon im Ersten Weltkrieg stattfand, die dann im Zweiten Weltkrieg mündete, in einem absoluten Inferno, die wurde noch weiter beschwiegen, viel länger. Das liegt daran, dass es so etwas wie ein 1968, ein Infragestellen der Taten der Eltern im Nationalsozialismus oder im Krieg überhaupt nicht gab. Alle autoritären Systeme neigen dazu, Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung nicht zuzulassen.“
Was dieses Buch so schrecklich macht, ist, dass die schockierende Gefühllosigkeit und mitleidlose Brutalität als Regelfall, nicht als Ausnahme dargestellt werden. Zur Verdeutlichung werden Archivrecherchen, Gesetzestexte und Umfrageergebnisse in die 50 kurzen Kapitel eingefügt. Sie vermischen sich mit Erinnerungen, Traumsequenzen und literarischen Zitaten zu einem kaleidoskopartigen Text.
„Das Buch sollte so sein, wie wenn man nachts wachliegt und einem die verschiedensten Dinge durch den Kopf gehen, man von einem Punkt zum nächsten kommt. Dazu gehören auch die Erinnerungen der Personen, mit denen ich gesprochen habe, deshalb gibt es nicht nur ein Ich, sondern zuweilen auch ein Du. Die Erzählstimme sollte unzuverlässig und zweifelnd sein, weil sie ihren Erinnerungen nicht einfach traut und auch den Rechercheergebnissen nicht.“ (Interview BZ vom 25.04.2023)
Es ist ein schreckliches, aber auch herausragendes Buch!
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