Ein Festtag
Graham Swift
Ein Festtag
Aus dem Englischen von Susanne Höbel
dtv 2018
142 Seiten
ISBN 978-3-423-14677-7
Es ist der 30. März 1924, der „Mothering Sunday“ wie das Buch im Original heißt; der Tag, an dem Dienstboten traditionell frei bekamen, um ihre Familien zu besuchen.
An diesem Tag erhält Jane Fairchild, Swifts Hauptfigur und praktisch die Erzählerin des Romans, einen überraschenden morgendlichen Anruf von Paul Sheringham, dem noch einzigen Sohn einer Upperclass-Familie. Er bestellt sie, das Dienstmädchen der Nivens, an ihrem freien Tag zu sich nach Upleigh House, was so etwas wie sein Abschiedsgeschenk an sie darstellt, wie der jungen Frau sehr wohl bewusst ist. Das Verhältnis zwischen den Beiden besteht schon seit sieben Jahren; Jane war damals 15 und bekam noch ein Sixpence-Stück, wenn sie sich mit Paul heimlich im Gewächshaus oder hinter den Ställen traf. Doch trotz des Standesunterschieds wurde es mit der Zeit eine Beziehung auf Augenhöhe, wohl auch, weil die bücherliebende Jane die Klügere von beiden ist. An diesem Tag nun stehen die Verhältnisse für ein paar kostbare Stunden auf dem Kopf: Erst fährt Paul wie ein Chauffeur die Upleigh-Dienstmädchen zum Bahnhof, später öffnet er seiner Geliebten wie ein Butler die Vordertür. Beim Abschied, äußerlich nun wieder ganz ein junger, standesbewusster Gentleman, ermuntert er seine Geliebte, das verlassene Anwesen nach Belieben zu besichtigen. Was die als Waisenkind zur Welt gekommene Jane auch tut, von der Bibliothek bis zur Küche im Untergeschoss, in aller Seelenruhe und vor allem – splitternackt. Und so stellt sie sich vor den großen Spiegel in der Halle:
Nie zuvor hatte sie die Möglichkeit gehabt, sich selbst in ihrer Nacktheit zu betrachten. In ihrer Mädchenkammer hatte sie einen kleinen Spiegel, der nicht größer war als eine der Bodenfliesen in der Halle. Das ist Jane Fairchild! Das bin ich!
Dieser große Moment der Freiheit, ja dieser ganze rauschhaft schöne Tag, an dem sich das Leben noch als „so freigiebig und so grausam“ zugleich erweisen sollte, ist aber auch die Geburtsstunde einer berühmten Schriftstellerin, die zeitlebens angetrieben wird von der Erkenntnis:
Wir sind alle Brennstoff. Wir werden geboren, und wir brennen, manche schneller als andere. Und es gibt unterschiedliche Zündstoffe. Aber nicht zu brennen, nie zu entflammen, das wäre wahrhaftig ein trauriges Leben.
Fast hundert Jahre alt wird diese Jane Fairchild werden und auf ein erfülltes Leben als selbstbewusste Frau zurückblicken; aber weder ihren Liebhabern noch einem ihrer vielen Interviewer wird sie von diesem Tag erzählen. Vielleicht liegt hier das Geheimnis der Wirkung von Graham Swifts meisterlich komponiertem, von großem Sprach- und Formbewusstsein zeugenden Roman, in dem die Zeiten – die von sinnlichen Details nur so getränkten Erinnerungen und die Gegenwart der greisen Jane Fairchild – miteinander verwoben sind. Er lässt uns Lesende auf bezaubernde Weise zu heimlich Mitwissenden, zu KomplizInnen werden.
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